Die Welle der Solidarität mit den Flüchtenden aus der Ukraine, die Empörung über Völker- und Menschenrechtsverletzungen sind ein moralisches Gebot. Es stehen wertvolle Werte und Normen der Menschenwürde auf dem Spiel. Doch scheint es, dass nicht alle Menschen gleich «menschenwürdig» sind. In Polen sollen Privatleute Flüchtende aus der Ukraine spontan aufnehmen, tun sie dasselbe gegenüber Irakern aus Belarus, machen sie sich strafbar.
Schutzsuchende aus der Ukraine werden in der Schweiz privilegiert behandelt. Und unsere Behörden Werden problemlos Erklärungen finden, weshalb eine erleichterte Aufnahme (Schutzstatus S) den Ukrainern, nicht aber Flüchtenden aus Afghanistan zu gewähren sei. Aufnahme und Anerkennung als Flüchtlinge erfolgen in der Schweiz nach Flüchtlingskonvention und Asylgesetz: Es geht um Gefährdung an Leib und Leben und den Verlust fundamentaler Freiheitsrechte.
Bei der Anwendung des Rechts gibt es aber einen großen Ermessensspielraum, und hier kommen Faktoren wie geografische und kulturelle Nähe der Flüchtlinge, gesellschaftliche und politische Akzeptanz im Inland zum Tragen. Flüchtende aus Ungarn und der Tschechoslowakei wurden mit offenen Armen aufgenommen. Auch später war es für Emigranten aus den Ostblockländern einfacher, als Flüchtlinge anerkannt zu werden als für Tamilen und Chilenen. Der Kolumnist selber arbeitete zwei Jahre beim Bundesamt für Flüchtlinge und gab diese Stelle auf, als man einzelne Tamilen die vorläufige Aufnahme verweigern wollte. Eingebrannt in unser kollektives Gedächtnis müsste aber die Schande des nazideutschen «Judenstempels» sein, den der Bundesrat akzeptierte, um eine «Verjudung» der Schweiz zu verhindern.
Und stellen wir uns vor, nach all den aktuellen Schrecklichkeiten würden die Russen die ganze Ukraine besetzen, da this ja Teil Russlands sei und Kiew auch schon das «Jerusalem der russischen Erde» genannt wurde. In der Folge würden Land konfisziert, russische Städte und Siedlungen gebaut, ein Straßennetz nur für Russen. Die natürlichen Ressourcen und die Aussengrenzen würden streng kontrolliert. Willkürliche Straßensperren, Militärjustiz, nächtliche Razzien und Präventivhaft würden alle Widerstandsversu-che im Keim ersticken, und die Ukrainer wären nicht mal Bürger zweiter Klasse. Jeder bewaffnete Widerstand wäre Terror. Sollte ein solches Horrorszenario Wirklichkeit werden, dann würde die Volksseele im Westen vor Empörung aufschäumen, Russland würde boykottiert und weltweit geächtet. Spannend nur, dass seit Jahrhunderten Ähnliches geschieht, nicht nur im Himalaja und im Land der Uiguren, sondern auch vor den Toren Europas. Dennoch «business as usual», Medien und Öffentlichkeit halten den Ball ganz flach; wer sich exponiert, kommt leicht in Teufels Küche. Messen nicht auch wir mit zwei Ellen?
Die Info: Hermann Schwarzen ist katholischer Theologe und ehemaliger Gemeindeleiter. In dieser Rubrik schreiben abwechslungsweise Autoren verschiedener Glaubensbekenntnisse.
Gedanken zum Sonntag
Hermann SchwarzenKatholischer Theologe
Quelle: www.bielertagblatt.ch