Mit enormem Aufwand schickte Mercedes den Prototypen seiner nächsten Elektro-Kompaktklasse auf Testtour. Das Ziel: Nie wieder Reichweitensorgen.
Sindelfingen – „Ich liebe dieses Auto“, schmunzelt Julien Pillas und lässt den Mercedes Vision EQXX den Berg hinunterrollen. „Schauen Sie, wie schnell es aufwärts geht“, sagt der Fahringenieur und zeigt auf das 47,5 Zoll große Digitaldisplay vor ihm, auf dem die digitale Zahl immer größer wird. Tatsächlich ist der schnittige Prototyp leichtfüßig. Das liegt auch an den rollwiderstandsarmen Reifen, einer Spezialentwicklung von Bridgestone.
Noch wichtiger ist die Aerodynamik: Der Mercedes Vision EQXX kommt auf einen cw-Wert von 0,17, unterbietet damit extreme Zigarren wie den 2014er VW XL1 um 0,02 Punkte und bewegt sich trotzdem völlig entspannt. Sobald Julien Pillas Gas gibt, lässt er andere Autos als Komparsen stehen. Und das bei vergleichsweise moderaten 180 kW/245 PS und einem Gewicht von 1.755 Kilogramm.
Mercedes Vision EQXX auf der Jagd nach Autonomie: 1000 elektrische Kilometer
Schließlich braucht der Mercedes Vision EQXX keine komplett verkleideten Hinterräder. Der ausfahrbare Heckdiffusor ist dafür sehr wichtig, da er auf der Autobahn 0,01 cW-Punkte beisteuert, in der Stadt verschwindet und nicht beschädigt werden kann. Der Luftwiderstandsbeiwert steigt jedoch auf 0,18. Und jeder Punkt zählt: Etwa zwei Drittel der Energie werden benötigt, um den Luftwiderstand zu überwinden.
Immerhin soll der Mercedes Vision EQXX mit einer Akkuladung 1.000 Kilometer weit kommen und Reichweitenkönige wie den Lucid Air einholen. Ein ehrgeiziges Ziel. Aber schließlich bieten die 100-Kilowattstunden-Batterien mit einer Spannung von 900 Volt einen Ausblick in die Zukunft der Mercedes-Elektromobilität. Sie sind nur halb so groß und mit 495 Kilo gut 200 Kilo leichter als der Mercedes EQS. Der Akku ist so effizient, dass der Luftstrom zur Kühlung ausreicht. Ebenso reichen 100 Kilowatt Ladeleistung, um ihn in 15 Minuten für 300 Kilometer zu füllen.
Mercedes Vision EQXX auf der Jagd nach Autonomie: Der Wind soll nicht helfen
Das ist die Theorie. Ob der Mercedes Vision EQXX in der Realität weniger als 10 kWh/100 km benötigt, musste ein Praxistest zeigen. Immerhin entspricht das einem Verbrauch von einem Liter beim Verbrennungsmotor. „Der EQXX ist kein Auto, das nichts tut“, erklärt Eva Greiner, Chefingenieurin Elektroantriebe bei Mercedes. Um das zu beweisen, soll der E-Prototyp von Sindelfingen ins südfranzösische Cassis fahren. Und zwar nicht durch das Rhonetal, wo der Mistral helfen könnte, sondern wie immer durch die Schweiz und Mailand. Typisch Mercedes wurde das Unterfangen militärisch genau geplant, die Strecke mehrfach abgefahren und vermessen. Damit alles reibungslos lief, richteten die Sindelfinger Techniker eine Mission Control ein, die in ständigem Kontakt mit dem Auto steht und Anweisungen gibt. Klingt wie die Apollo-Mission.

Ebenso der technische Aufwand. Schließlich ist der Mercedes Vision EQXX ein Vorbote der elektrischen Kompaktklasse-Generation, die 2024 auf den Markt kommen soll. Die Daten und Erfahrungen dieses Tagesausflugs zählen also. Parallel zur Fahrt wurden drei Simulationen durchgeführt: Ein reiner Software-Simulator wurde mit allen relevanten Daten, zB der Topografie der Strecke, gefüttert und bei Fahrtantritt aktiviert. Allerdings rechnete der Computer 1,8-mal schneller als das echte Auto und war ihm entsprechend voraus. Auch die Getriebekomponenten arbeiteten zusammen, allerdings in einem Mercedes EQB.
Mercedes Vision EQXX auf der Jagd nach Autonomie: Schlechtes Wetter erhöht den Verbrauch
Endlich war es soweit. „Das war das erste Mal, dass das Auto auf öffentlichen Straßen unterwegs war“, erinnert sich Julien Pillas, einer von drei Fahrern, die sich die Strecke mit je einem Beifahrer teilten und den EQXX in- und auswendig kennen. Doch die Bedingungen bei der Abfahrt um sieben Uhr morgens waren alles andere als gut: Das Thermometer zeigte knapp drei Grad und es regnete, was den Widerstand der Luft erhöhte. „Ein Grad weniger und wir hätten es aussetzen müssen. In Deutschland hatten wir nur Regen und Gegenwind“, erinnert sich Eva Greiner.
Die Rollenverteilung im Auto war klar definiert. Der Fahrer blieb sehr konzentriert, während der Copilot mit Mission Control kommunizierte. Die Vorgabe war, so schnell wie möglich zu fahren, aber der EQXX war auf 140 km/h begrenzt. Bis zum Gotthardtunnel sorgten Schlechtwetter und Bergaufpassagen für einen Verbrauch von über 10 kWh/100 km und schickten die Bilanz ins Minus.
Mercedes Vision EQXX auf der Jagd nach Autonomie: Der Wandler fällt aus
Zu allem Überfluss verschwand auch der DC/DC-Wandler (DC = Gleichstrom), der das 12-Volt-Bordnetz mit Energie aus der großen Batterie versorgt. Machen? Als der kleine Akku leer war, ging nichts. „Gott sei Dank hatten wir so einen Fall schon einmal und konnten dem Piloten sagen, was zu tun ist“, schmunzelt Eva Greiner. An einer Ampel klappte die Wiederbelebung beim zweiten Versuch.
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Nach Passieren der großen Röhre südlich des Alpenhauptkamms hellten sich das Wetter und die Minen auf. Die „Bergparty“ fand dann in Mailand statt: Es waren noch rund 500 Kilometer zu fahren, ohne große Anstiege und eine Reichweite von mehr als 500 Kilometern. „Einmal hieß es: Fahre 120 km/h und kurz darauf: Lass es, wir haben es ausgerechnet. Das bedeutete 130 km/h auf französischen Autobahnen“, erinnert sich Julien Pillas. Die Sonne in Südeuropa schien so hell auf das Schiebedach des Mercedes, dass es so viel Strom erzeugte, dass der anfällige Konverter sogar abschalten konnte.
Mercedes Vision EQXX auf der Jagd nach Autonomie: Mission erfüllt
Nach gut zwölf Stunden Fahrt und einer Strecke von 1.008 Kilometern erreichte der elektrische Silberpfeil um 19:02 Uhr Cassis. Der begleitende TÜV-Ingenieur, der zu Beginn der Fahrt den Tankdeckel plombiert hatte, bestätigte eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 87,4 km/h, einen Verbrauch von 8,7 kWh/100 km und eine Restreichweite von mehr als 140 km. Die Mission war also ein voller Erfolg. Jetzt muss nur noch die Produktionsversion gestartet und das Autonomieproblem ein für alle Mal gelöst werden. (Wolfgang Gomoll/Pressebericht)
Quelle: www.24auto.de