1991 erlangten die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Das Erreichen der Energieunabhängigkeit, also der Loslösung von Russlands Energieinfrastruktur und vom russischen Markt, dauerte weitere drei Jahrzehnte. Auch nach dem EU-Beitritt der drei Länder im Jahr 2004 wurden die baltischen Staaten treffend als „Energieinsel“ innerhalb der EU bezeichnet: Sie waren zwar in vielerlei Hinsicht Mitglied der Union, aber nicht in Bezug auf ihre Energieinfrastruktur. Die baltische Infrastruktur sowie die Gas- und Strommärkte blieben eng mit Russland verflochten, ein Erbe der sowjetischen Besatzung. Angesichts des Mangels an einheimischen Gasquellen war der Energiesektor besonders gefährdet, wenn Russland drohte, seine Energieexporte als „Waffe“ einzusetzen.
Debatten über Energiesicherheit und Unabhängigkeit sind in den baltischen Ländern recht komplex. Einerseits sind die Verwundbarkeit der drei Länder und die von Russland ausgehenden Risiken bekannt. Andererseits wäre eine echte Energieunabhängigkeit ohne erhebliche Investitionen und Reformen nicht möglich. Wie Russland und russlandnahe Unternehmen im Baltikum immer wieder betonen, lieferte der östliche Nachbar Erdgas zu einem vermeintlich günstigen Preis und langfristig. Solche Argumente haben bisher Anklang gefunden.
Im Jahr 2014 wurde im Hafen von Klaipėda ein Terminal für verflüssigtes Erdgas in Betrieb genommen. Sein Name ist: Unabhängigkeit.
Unter den baltischen Staaten hat sich Litauen traditionell am stärksten für Energiesicherheit und -unabhängigkeit eingesetzt. Vilnius machte auch einen der ersten großen Schritte in Richtung einer unabhängigen Energieinfrastruktur. Im Jahr 2014 wurde im Hafen von Klaipėda ein Terminal für verflüssigtes Erdgas (LNG) in Betrieb genommen, dessen Herzstück eine schwimmende Speicher- und Regasifizierungsanlage auf einem 300 Meter langen Schiff ist. Benannt: Unabhängigkeit. Dies war jedoch eine einseitige Entscheidung Litauens, nachdem es mit Lettland und Estland keine Einigung über den Bau eines gemeinsamen, von der EU kofinanzierten Terminals erzielen konnte. Dabei wurde deutlich, dass die baltischen Staaten zwar in vielerlei Hinsicht als gleichgesinnt und nah angesehen werden, aber in wirtschaftlicher und materieller Hinsicht zu Konkurrenten werden können.
Fast acht Jahre nach Inbetriebnahme des LNG-Terminals in Klaipėda ist es nach wie vor das einzige Infrastrukturprojekt in den baltischen Staaten, das technisch in der Lage ist, den litauischen Inlandsmarkt sowie die beiden anderen baltischen Staaten und mehr mit Erdgas zu versorgen Finnland. Seit 2020 ist die Anlage über die von der EU kofinanzierte Balticconnector-Pipeline an das estnische Netz angeschlossen. Die GIP (Gasverbindung Polen-Litauen) wurde seit dem 1. Mai schrittweise eine Gaspipeline zwischen Litauen und Polen in Betrieb genommen, die die baltischen Staaten mit den anderen EU-Staaten verbindet. Gleichzeitig öffnete die Liberalisierung des Erdgasmarktes innerhalb der EU die Märkte für neue Akteure und reduzierte damit den Einfluss von Unternehmen mit Verbindungen zu Russland.
Dank des LNG-Terminals in Klaipėda konnte Litauen im April dieses Jahres einen vollständigen Ausstieg aus der Einfuhr von russischem Erdgas verkünden.
Dank des LNG-Terminals in Klaipėda konnte Litauen im April dieses Jahres einen vollständigen Ausstieg aus der Einfuhr von russischem Erdgas verkünden. Estland folgte diesem Beispiel und kündigte an, bis Ende des Jahres kein russisches Gas mehr zu importieren. In Zusammenarbeit mit Finnland, das bereits über eigene LNG-Anlagen verfügt, beabsichtigt die estnische Regierung, vor Beginn des Winters 2022 ein neues LNG-Terminal in Paldiski in Betrieb zu nehmen.
Inzwischen wächst auch in Lettland der Druck, solche Maßnahmen zu ergreifen. Anfang April einigte sich die Regierungskoalition darauf, die Einfuhren von russischem Erdgas bis Ende 2022 einzustellen. Lettland will sich auch an dem genannten estnisch-finnischen LNG-Projekt in Paldiski beteiligen und den Bau eines LNG-Terminals in Lettland selbst fördern . Standortoptionen sind Skulte und die Hauptstadt Riga. Eine solche Anlage könnte voraussichtlich 2023 oder 2024 fertiggestellt werden. Einer der lautstärksten Gegner des Ausstiegs aus russischen Erdgasimporten ist wenig überraschend Latvijas Gāze, ein ehemaliges Monopolist. Dort ist Gazprom der zweitgrößte Anteilseigner. Das Unternehmen sagte, ein vollständiges Importverbot würde zu höheren Preisen und sogar zu einer Energiekrise führen. Allerdings ist in Lettland im unterirdischen Speicher Inčukalns derzeit genug Erdgas für mehrere Monate gespeichert.
Die Entscheidung der russischen Regierung, die Gaslieferungen nach Polen einzustellen, dürfte den Wettbewerb um LNG-Versorgungskapazitäten in der Region verschärfen.
Die Abkehr vom russischen Erdgas wird jedoch kurzfristige Herausforderungen mit sich bringen. Das LNG-Terminal in Klaipėda reicht nicht aus, um den Bedarf der drei baltischen Staaten zu decken. Gleichzeitig dürfte die Entscheidung der russischen Regierung, die Gaslieferungen nach Polen einzustellen, den Wettbewerb um LNG-Versorgungskapazitäten in der Region verschärfen. Mittelfristig wird also viel von den noch zu errichtenden LNG-Anlagen abhängen.
Die baltischen Staaten haben sich aufgrund der russischen Invasion in der Ukraine weiter von Russland entfernt. Dies gilt auch für die Stromversorgung. Die vollständige Entkoppelung der russischen Erdgasinfrastruktur vom russischen Markt scheint in allen drei Ländern nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Die baltischen Staaten waren einst die Länder, die am stärksten von Russlands Strategie der Bewaffnung von Energieexporten bedroht waren. Nun könnten sie bald zu den Ersten gehören, die dagegen immun sind.
Aus dem Englischen übersetzt von Tim Steins
Quelle: www.ipg-journal.de