DIrk Labudde sitzt in seinem Wohnarbeitszimmer in Dresden, neben ihm an der großen Anschlagtafel hängt ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Leipzig mit einer Vorladung und kurzen Gedanken: „Bildmaterial verbessern“ oder „Farbspektrum ändern“. Seit einiger Zeit klingelt es bei Labudde und die Staatsanwaltschaft oder der Vorsitzende eines Mordprozesses fragen nach seiner Meinung.
Dirk Labudde ist Forensiker, sein Spezialgebiet ist die Aufklärung von Straftaten mit Drohnen, Computerprogrammen und 3D-Modellen. An der Hochschule Mittweida in Sachsen leitet er den von ihm gegründeten Studiengang Digitale Forensik. „Es ist immer ein Rennen zwischen Kriminellen und Ermittlern“, sagt Labudde. „Meine Schüler und ich suchen immer nach neuen Wegen, Menschen zu identifizieren.“
Darüber hat Labudde nun zusammen mit der Journalistin Heike Vowinkel ein Buch geschrieben: „Digitale Forensik“. Darin berichtet er von seinen Fällen, die den Ermittlern oft aussichtslos erscheinen, wenn er sie an den Tisch bringt. Der Mord an der Münchner Geschäftsfrau Charlotte Böhringer zum Beispiel.
Oder der Missbrauch und Mord an der zehnjährigen Stephanie aus Weimar: ein Fall, den Labudde 26 Jahre nach ihrem Verschwinden lösen konnte. Und schließlich der spektakulärste Raubüberfall der letzten Jahre. Es veranlasste Labudde, eine Technik zu entwickeln, bei der das individuelle Skelett einer Person zu einem Identifikator wird.
Skelettbasierte Bewegungsanalyse.
2017 wurde die 100 Kilogramm schwere „Great Maple Leaf“, eine kanadische Goldmünze im Wert von 3,75 Millionen Euro, aus dem Bode-Museum in Berlin gestohlen. Drei junge Männer aus einer bekannten Großfamilie aus dem Libanon wurden kurz darauf angeklagt.
Labudde wurde als Sachverständiger vor Gericht gerufen und bekam das Video der Überwachungskamera von der S-Bahn-Strecke Hackescher Markt auf den Tisch.
Bei einem der Verdächtigen wurde festgestellt, dass sein rechter Fuß beim Gehen nach außen gedreht war. Die Staatsanwaltschaft wollte nun wissen, ob bewiesen werden könne, dass es sich bei den Männern im Video und den Tatverdächtigen um dieselben Personen handele.
Screenshot von Labudes Präsentation „Photogrammetric Treatment and Video Analysis“
Quelle: Dirk Labudde
Laude dachte darüber nach. War es möglich, die einzelnen Gänge zu wechseln?
„Ich habe darüber nachgedacht, wie der Gang zustande kam“, sagt Labudde. „Könnte eine skelettbasierte Bewegungsanalyse ein identitätsstiftendes Merkmal sein, mit dem sich Täter eindeutig überführen lassen?“
Labudde, der ursprünglich Medizinphysik studierte, forschte, tüftelte und argumentierte mit den Programmierern. Und er entdeckte: Die ganz persönliche Art zu gehen entsteht durch das individuelle Skelett.
Er entwickelte ein Computerprogramm, mit dem er durch Eingabe von 14 Werten wie Ober- und Unterarmlänge oder Beckenbreite einen digitalen Zwilling eines beliebigen Skeletts erstellen und so auch das Gehen imitieren kann. Also vermaß er die Verdächtigen auf einem Plattenteller, legte ihr virtuelles Skelett auf das reale Video und stellte fest, dass die Bewegungen gleich waren.
Ein 3D-Modell von Labudde
Quelle: Dirk Labudde
Doch der Richter bezweifelte, dass diese Skelettanalyse wirklich so individuell sein könne wie ein Fingerabdruck oder die DNA einer Person. Die Methode war noch nicht ausgereift. Drei der Verdächtigen im Video wurden 2020 zu drei bis vier Jahren Haft verurteilt, nachdem Goldsplitter in ihrer Kleidung gefunden worden waren. Der vierte Mann wurde freigesprochen.
„Das war damals natürlich ein herber Rückschlag“, gibt Labudde heute zu. „Aber ich habe gelernt, aus solchen Erfahrungen eine Art Bodenenergie zu ziehen. Wenn ich an eine Methode glaube, dann knie ich mit meinem Team.“ Heute weiß er, dass nur einer von einer Million Menschen das gleiche Skelett hat wie ein anderer Mensch.
Und tatsächlich wurde ein Jahr später nach Labuddes Methode erstmals ein Täter in einem Prozess wegen Tankstellenraubs nach Labuddes Berechnungen verurteilt. „Zunächst musste ich mich damit auseinandersetzen, dass jetzt mit meiner Methode Kriminelle verurteilt werden“, sagt er. „Ich bin Wissenschaftler und kein Forscher.“
Also verurteilte er einen Kindermörder
Und die Zusammenarbeit mit Forschern ist nicht immer einfach. In der „Soko Altfallen“ in Thüringen musste der Fall der zehnjährigen Stephanie Drews, die 1991 tot unter einer Autobahnbrücke bei Weimar aufgefunden wurde, neu aufgerollt werden.
März 2018, Jena: Foto von Stephanie Drews bei einer Pressekonferenz der Polizei
Quelle: pa/Bodo Schackow
Labudde baute die inzwischen umgebaute Teufelstalbrücke mit Archivmaterial nach, erstellte einen digitalen Zwilling von Stephanie und entwickelte ein Computerprogramm.
Nach langen und akribischen Ermittlungen konnte er schließlich beweisen, dass Stephanie von der Brücke gestoßen wurde und nicht gestürzt sein konnte. Denn ohne die Wucht des Schlags wäre ihr Körper an einer Stelle aufgeschlagen, die nicht mit der Stelle übereinstimmte, an der sie gefunden wurde. Angesichts von Labuddes Video gestand ein mutmaßlicher 65-jähriger Lkw-Fahrer, widerrief später und wurde unter Verwendung der Simulation für schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt.
Das Video, mit dem Labudde den Ablauf simulierte, wurde 2018 vor Gericht gezeigt. Auch Stephanies Mutter war im Gerichtssaal. „Das war ein sehr schwieriger Moment für mich“, sagt Labudde, „ich musste den Raum erst verlassen.“ Denn auf Bitten der Ermittler hatte Labudde der Schaufensterpuppe auch das Aussehen von Stephanie verliehen und ein ähnliches Kleid angezogen wie sie. Sie nutzte diesen Tag tatsächlich, den sie nutzte.
„Es war sehr bedrückend, sie so von der Brücke fallen zu lassen“, sagt Labudde. „Ich habe mich immer wieder gefragt, was ist mit der Mutter?“ Er hofft, dass die Festnahme des Täters Stephanies Eltern zu etwas Gerechtigkeit verhelfen kann.
„Jede Mordkommission braucht dieses Material“
Labudde arbeitet nun mit seinem Team an seinen Techniken. 60 Prozent aller Verbrechen können bisher aufgeklärt werden, 90 Prozent aller Morde.
„Durch den Einsatz digitaler Technik lässt sich die Autorisierungsquote weiter verbessern“, glaubt Labudde. Aber die Ausbildung an der Polizeiakademie muss digitaler werden. „Zwar sind mittlerweile alle Landeskriminalämter mit Drohnen und 3D-Scannern ausgestattet“, sagt Labudde, „aber alle Mordkommissionen brauchen diese Ausrüstung.“
Quelle: Tomas Rodriguez
Der Professor arbeitet mit seinen Studenten an aktuellen Fällen, die ihm die Staatsanwaltschaft nach dem Prozess überlässt. Sie hat jedes Jahr rund 250 Studierende, darunter viele angehende Forschende, die sich auf digitale Ansätze spezialisieren wollen.
Labudde arbeitet an Techniken, die es den Ermittlern ermöglichen würden, mit einer Virtual-Reality-Brille durch einen unberührten Tatort zu gehen oder anhand von DNA-Beweisen ein Identitätskit zu erstellen. „Wir werden in den nächsten Jahren sicherlich einige Schritte nach vorne machen“, sagt er.
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Quelle: www.welt.de